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11. Januar
Der Mann im Bett bewegte sich und ließ ein Stöhnen hören. Die Krankenschwester stand auf und trat zu ihm. Sie glättete die Kissen und half ihm in eine bequemere Lage.
Andrew MacWhirter gab als Dank nur ein Knurren von sich. Er war in erbitterter und rebellischer Stimmung.
Zu dieser Stunde hätte alles längst vorbei sein sollen. Er hätte von allem befreit sein sollen. Fluch über den verdammten Baum, der überflüssigerweise gerade aus der Klippe herauswachsen musste! Fluch über das Liebespaar, das einem kalten Winterabend Trotz bot, um sich am Rande der Klippe ein Stelldichein zu geben! Wären das Liebespaar und der Baum nicht gewesen, so wäre jetzt alles überstanden – ein Sprung ins tiefe, eiskalte Wasser, vielleicht ein kurzer Kampf, und dann Erlösung – das Ende eines verfehlten, nutzlosen Lebens.
Und was war jetzt mit ihm? Da lag er lächerlicherweise in einem Krankenhausbett, mit einer gebrochenen Schulter und mit der Aussicht, sich wegen versuchten Selbstmords vor Gericht verantworten zu müssen.
Es handelte sich doch um sein eigenes Leben, oder etwa nicht? Und wenn ihm sein Vorhaben geglückt wäre, dann hätte man ihn als einen Geistesgestörten fromm begraben!
Geistesgestört, haha! Nie war er mehr bei Verstand gewesen. Selbstmord zu verüben war das Vernünftigste, was ein Mann in seiner Lage überhaupt tun konnte.
Elend und verlassen, verlassen von einer Frau, die mit einem andern durchgegangen war… Arbeitslos, ohne Bindung, ohne Geld und ohne Hoffnung – war es da nicht die beste Lösung, allem ein Ende zu machen?
Ja, und da lag er nun. Er schnaubte ärgerlich. Eine Fieberwelle überlief ihn.
Die Krankenschwester stand wieder neben ihm.
«Haben Sie starke Schmerzen?»
«Nein.»
«Ich werde Ihnen ein Schlafmittel geben.»
«Sie werden nichts dergleichen tun.»
«Aber…»
«Glauben Sie, ich könnte ein paar Schmerzen und ein bisschen Schlaflosigkeit nicht ertragen?»
Sie strich abermals die Kissen glatt und rückte ihm ein Glas Limonade näher hin.
Leicht beschämt sagte er: «Entschuldigen Sie meine Schroffheit.»
«Oh, das macht nichts.»
Es ergrimmte ihn, dass sie sich von seiner schlechten Laune nicht im geringsten beeindrucken ließ. In ihren Augen war er nur ein Patient, kein Mensch.
Ruhig fuhr sie fort: «Morgen werden Sie sich schon viel besser fühlen.»
«Ach, ihr Krankenschwestern! Ihr seid unmenschlich, das seid ihr!»
«Wir wissen nur, was für Sie am besten ist.»
«Das ärgert mich ja so! Diese dauernden Einmischungen! Von Ihnen, den Ärzten, von der ganzen Welt. Alle wissen’s besser. Ich wollte mir das Leben nehmen. Das ist Ihnen bekannt, nicht wahr?»
Sie nickte.
«Es geht niemanden etwas an, wenn ich mit meinem Leben Schluss machen will, niemanden! Warum soll ich mich nicht umbringen, wenn ich es will?»
«Weil es verkehrt ist», antwortete sie.
«Wieso ist es verkehrt?»
Nachdenklich sah sie ihn an. In ihrem Glauben fühlte sie sich nicht erschüttert, aber es fiel ihr schwer, sich auszudrücken.
«Ja, ich meine, es ist Sünde, sich umzubringen. Man muss weiterleben, ob es einem gefällt oder nicht.»
«Weshalb denn?»
«Nun, man muss doch an die andern Menschen denken, nicht wahr?»
«In meinem Fall nicht. Es gibt keine Seele auf der Erde, für die es einen Nachteil bedeutet, wenn ich nicht mehr bin.»
«Haben Sie denn gar keine Verwandten?»
«Nein. Ich hatte eine Frau, aber die hat mich verlassen. Ganz gut so! Sie sah, dass ich nichts taugte.»
«Aber Sie haben doch sicherlich Freunde?»
«Nein. Ich bin kein Mensch für Freundschaften. Schauen Sie, Schwester, ich will Ihnen was erzählen. Früher war ich recht glücklich. Ich hatte eine gute Stellung und eine hübsche Frau. Dann gab es einen Autounfall. Mein Chef fuhr den Wagen, und ich saß mit darin. Er wollte, dass ich aussage, er habe im Augenblick des Unfalls die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht überschritten. Das stimmte aber nicht. Er war fast doppelt so schnell gefahren. Niemand war bei dem Unfall ums Leben gekommen, aber er wollte wegen der Versicherung im Recht sein. Nun, ich sagte nicht aus, was er wünschte. Das wäre eine Lüge gewesen. Ich lüge nicht.»
«Ich finde, Sie haben ganz richtig gehandelt», bemerkte die Schwester.
«So, das finden Sie? Mich kostete meine Starrköpfigkeit die Stellung. Mein Chef war wütend. Er sorgte dafür, dass ich keine neue Stellung bekam. Meine Frau wurde es leid, mich untätig herumsitzen zu sehen. Sie ging mit einem Mann durch, der mein Freund gewesen war. Nun, da blieb mir nichts mehr, für das sich das Leben lohnte. Ich nützte keinem Menschen.»
«Das können Sie gar nicht wissen», murmelte die kleine Krankenschwester.
Er lachte. Seine Stimmung hatte sich erheblich gebessert. Ihr naiver Widerstand belustigte ihn.
«Mein gutes Kind, wem sollte ich denn etwas nützen?»
Sie erwiderte verwirrt: «Das wissen Sie ja gar nicht. Eines Tages… vielleicht…»
«Jedenfalls habe ich das Recht, mit meinem eigenen Leben zu machen, was ich will.»
«Nein, das haben Sie nicht.»
«Aber wieso denn nicht?»
Sie errötete. Ihre Finger spielten mit dem kleinen goldenen Kreuz, das auf ihrer Brust hing.
«Sie verstehen nicht… Gott könnte Sie brauchen.»
Er starrte sie an. Er wollte ihr den kindlichen Glauben nicht nehmen. Gleichwohl sagte er mit leichtem Spott: «Sie meinen, ich werde eines Tages ein durchgegangenes Pferd aufhalten und einer blonden Maid das Leben retten?»
Sie schüttelte den Kopf. Mit einer Heftigkeit, der man ihr Bemühen, die richtigen Worte zu finden, anmerkte, antwortete sie: «Es genügt schon, dass Sie sich irgendwo aufhalten – ohne etwas zu tun –, dass Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind. Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll… Vielleicht gehen Sie eines Tages nur über die Straße und tun damit etwas sehr Wichtiges und Einschneidendes, ohne es selber zu wissen…»
Die rothaarige kleine Krankenschwester stammte von der Westküste Schottlands, und in ihrer Familie gab es Leute, die «Gesichte» hatten.
Vielleicht sah sie unklar einen Mann an einem Septemberabend über eine Straße gehen, der dadurch einen Menschen vor einem entsetzlichen Tod bewahrte…